Mobbing & Cybermobbing: Unser 48-Stunden-Plan
Wir reden nicht über Technik. Wir reden über Gefühle: Bauchweh vor der Schule, verdrückte Tränen abends, der Blick, der sagt: „Frag bitte nicht.“ Online kann Gemeines schnell Kreise ziehen. Unser Plan holt die Wucht raus – ruhig, klar, Schritt für Schritt.
Was Mobbing & Cybermobbing sind
Mobbing heißt: Wiederholte Verletzung – durch Worte, Bilder, Ausgrenzung. Cybermobbing ist dasselbe im Netz: in Chats, Kommentaren, Stories, Gaming-Chats. Es trifft härter, weil viele zuschauen, Inhalte speicherbar sind und das Handy immer dabei ist. Wichtig: Dein Kind ist nicht schuld. Punkt.

Der erste Satz zählt
Wie Cybermobbing funktioniert – damit wir es wirklich erkennen
Stell dir vor, der Schulhof endet nicht am Tor. Er passt in die Hosentasche und kommt mit ins Kinderzimmer, ins Bett, sogar in den Urlaub. Genau das macht Cybermobbing so hart: Verletzende Worte, Bilder oder Gerüchte verschwinden nicht mit dem Klingeln der Schulglocke. Sie reisen mit. Und weil ein Bildschirm dazwischen ist, trauen sich manche Dinge, die von Angesicht zu Angesicht nie gesagt würden. Unser Kind sitzt dann vermeintlich „nur am Handy“ – und wir sehen nicht, dass es gerade vor einer ganzen Klasse steht.
Der Mechanismus – von „einmal doof“ zu „ständig präsent“
Oft beginnt es klein. Ein peinlicher Moment, ein unglückliches Foto, ein sarkastischer Kommentar, der eigentlich ein „Witz“ sein sollte. Online bekommt so etwas in Sekunden Publikum. Ein paar Herzen, ein paar Lacher, jemand speichert es ab – und schon fühlt es sich für unser Kind nicht mehr wie ein einzelner Ausrutscher an, sondern wie ein Stempel. Algorithmen helfen unabsichtlich mit: Was Aufmerksamkeit erzeugt – und sei sie gehässig – wird häufiger angezeigt. So entsteht eine Schleife: Es taucht wieder auf, an anderen Orten, zu anderen Zeiten, auch wenn es bereits gelöscht wurde. Unser Kind lernt: „Es hört nicht auf, auch wenn ich offline gehe.“
Rollen, die das Ganze treiben
Es gibt selten nur „den Täter“ und „das Opfer“. Meistens sind da ein paar Lautere, ein paar, die mitlachen, und viele, die schweigen. Einige meinen es nicht mal böse, sie tippen nur auf „Teilen“, weil es alle tun. Doch für das betroffene Kind macht es keinen Unterschied: Jeder Klick fühlt sich an wie eine weitere Hand, die schubst. Und das Schweigen der anderen wird schnell als Zustimmung gelesen. Wichtig ist: Kinder rutschen in diese Rollen, ohne es zu merken – und genauso können wir sie wieder herausführen, wenn wir die Dynamik früh sehen.
Wer gefährdet ist – und warum das keine Schuldfrage ist
Gefährdet ist im Grunde jedes Kind, das sichtbar ist – also alle. Sichtbar kann heißen: viele Follower, ein offenes Profil, eine starke Meinung… aber genauso die stille Art, die wenig widerspricht. Übergänge sind heikel: neue Klasse, Pubertät, verändertes Aussehen, andere Interessen. Auch alte Konflikte vom Pausenhof finden online ein lautes Echo. Keines dieser Merkmale bedeutet „selbst schuld“. Verantwortung liegt immer bei denen, die verletzen – und bei uns Erwachsenen, die schützen und eingreifen.
Wo es passiert – übersetzt in unseren Elternalltag
In Klassengruppen auf dem Handy, wo Sticker und „Insider“ zum kleinen Publikumstheater werden. In Social-Apps, wo Stories nach 24 Stunden verschwinden, aber die Screenshots bleiben. In Spielen, in denen der Voice-Chat schneller ist als jeder Gedanke und eine Runde „Kick & Ban“ über Zugehörigkeit entscheidet. Und auch dort, wo wir es nicht erwarten: in geteilten Schul-Dokumenten, in Klassenseiten, in „Lern“-Chats, die plötzlich zum Lästerraum werden. Gemeinsam ist all dem: Es gibt immer einen Eingang für Worte, Bilder oder Clips – und damit auch einen Ausgang in viele Taschen.
Warum Kinder oft nichts sagen
Scham ist laut, Worte sind leise. Viele Kinder fürchten, wir könnten aus Schutz das Falsche tun: Handy wegnehmen, alles lesen, in der Klasse „groß Alarm“ machen. Andere hoffen, es gehe von allein vorbei. Manche halten Loyalität aus: „Das sind doch meine Freunde.“ Deswegen brauchen sie einen ersten Satz von uns, der die Tür öffnet: „Danke, dass du mir das sagst. Dein Handy bleibt. Wir schauen gemeinsam, was wir tun.“ Danach wird aus dem gefühlten Alleinkampf ein Teamspiel – und das ist die halbe Miete.
Woran wir es merken – ohne Spion zu sein
Es sind die kleinen Wellen im Alltag: Das Handy wird plötzlich gehasst oder gar nicht mehr losgelassen. Profile verschwinden oder heißen anders. Schlaf kippt, Bauchweh wächst, Verabredungen werden „vergessen“. Wir müssen nicht alles kontrollieren. Es reicht, präsent zu sein, neugierig zu fragen und uns Abläufe zeigen zu lassen: „Zeig mir mal, wie das hier funktioniert.“ Nicht als Kontrolle, sondern als Einladung. Wenn unser Kind uns den Raum zeigt, kann es darin wieder atmen.

Ein Satz, der Türen öffnet
Wie wir eingreifen, ohne Öl ins Feuer zu gießen
Die Reihenfolge rettet Nerven: erst Beweise sichern, dann melden, dann blockieren – und zwar ohne Gegenschlag. Kein öffentlicher „Rache-Post“, keine hitzigen Antworten. Stattdessen ruhige Schritte, die wirken: Screenshots mit Uhrzeit und Namen, kurze Bildschirmaufnahme bei flüchtigen Inhalten, Link kopieren. Danach die Plattform nutzen – jede App hat eine Meldefunktion – und im Anschluss blockieren. Parallel holen wir die Schule ins Boot und verabreden eine feste Ansprechperson. So entsteht ein Netzwerk aus Erwachsenen, das den Druck aus der Hosentasche nimmt.
Cybermobbing ist kein Technikproblem. Es ist ein Beziehungsproblem mit technischen Verstärkern. Wenn wir die Verstärker kennen, können wir sie leiser drehen – und unser Kind wieder lauter werden lassen.
Wo Kinder gefährdet sind
Kinder bewegen sich in Messenger-Gruppen, Social-Apps und Spielen. Fast überall lassen sich Nachrichten schicken, Bilder teilen, Leute markieren oder ausschließen – genau dort entsteht Druck.
- Messenger & Klassengruppen: sarkastische Sticker, peinliche Fotos, Neben-Gruppen ohne das eigene Kind.
- Social Media: fiese Kommentare, peinliche Stories, Fake-Profile im Namen deines Kindes.
- Gaming & Voice-Chats: Beleidigungen im Headset, gezieltes Rauswerfen, Clips zum Lächerlichmachen.
- Schule ↔ Internet: Streit vom Schulhof wandert ins Netz – und umgekehrt.
Warnzeichen: Meiden oder Klammern am Handy, Schlafprobleme, Bauchweh vor Schule, Noten kippen, Profile werden gelöscht/umbenannt.
Der 48-Stunden-Plan
Wenn es knallt, braucht unser Kind zuerst uns – ruhig, klar, verlässlich. Dieser Plan nimmt dir die Angst, etwas „falsch“ zu machen, und führt dich Schritt für Schritt durch die ersten zwei Tage: erst Halt geben, dann Beweise sichern, anschließend melden und blockieren, parallel Schule und Plattformen ins Boot holen und die emotionale Last reduzieren. Du musst keine Technik können – wir erklären jeden Handgriff so, dass er am Sofa machbar ist. Wichtig ist die Reihenfolge und dass wir konsequent bleiben. So holen wir die Wucht aus dem Handy, schaffen wieder Kontrolle und geben unserem Kind das Gefühl zurück: „Ich bin nicht allein – die Erwachsenen kümmern sich.“

Erst atmen, dann handeln
Stunde 0–2: Halt geben, Druck rausnehmen
Erst atmen wir zusammen. Keine Vorwürfe, keine Handy-Strafen. Decke, Tee, Nähe. Frage sanft: „Was ist passiert? Wer war beteiligt? Wo steht es?“ Prüfe akute Gefahr (Drohen vor der Schule, Erpressung mit Bildern). Bei echter Bedrohung sofort Schule, bei Gefahr für Leib und Leben: 112. Stell Benachrichtigungen auf „Nicht stören“, damit die Dauer-Pings nicht weitertriggern – Inhalte bleiben erhalten.
Stunde 2–6: Beweise sichern – ohne Gegenschlag
Screenshots von Chats, Posts, Profilnamen, Datum/Uhrzeit. Bei verschwindenden Stories kurze Bildschirmaufnahme. Links zu Profilen/Posts kopieren. Nichts löschen, nicht antworten, keine Rache-Posts.
Mini-How-to (ohne Technik-Vorkenntnisse)
- iPhone: Seitentaste + Lauter = Screenshot. Bildschirmaufnahme im Kontrollzentrum.
- Android (oft): Ein/Aus + Leiser = Screenshot. Bildschirmaufnahme in der Schnellleiste.
- Wichtig: Uhrzeit/Profilname im Bild lassen; Dateiname nicht verändern.
Stunde 6–12: Melden, blockieren, Liste führen
Mit den Beweisen melden wir die Inhalte in der App (am Beitrag/Profil „Melden/Report“). Danach blockieren wir die Absender. Reihenfolge: Beweise sichern → melden → blockieren. Kurze Liste führen: App, Datum, Link/Screenshot, was gemeldet wurde.
Stunde 12–24: Schule & Vertrauensnetz aktivieren
Klassenleitung/Schulsozialarbeit informieren – sachlich, mit Belegen. Rückmeldung innerhalb von 48 Stunden erbitten, feste Ansprechperson klären. Zuhause Menschen einbinden, die guttun: Großeltern, Pat:innen, sehr gute Freund:innen.
Stunde 24–48: Stabilisieren & Grenzen setzen
Mit der Schule Maßnahmen prüfen (Aufsicht, moderierte Gespräche, Klassenregeln, ggf. Schulleitung). Zuhause: feste Schlafzeiten, Handy-Pausen als Entlastung (nicht als Strafe), kleine Inseln (Spaziergang, Kochen, Spiel). Profile vorerst privat, Fremde raus, Standort aus. Bei Nacktbildern, Erpressung, Stalking: Beratung hinzuziehen und ggf. Polizei.

Sofort-Entlastung
Melden & blockieren – ohne Fachchinesisch
- WhatsApp: Chat öffnen → oben auf den Namen → „Blockieren“. Nachricht lange drücken → „Melden“.
- Instagram/TikTok/Snapchat: Am Beitrag „…“ → „Melden“. Danach Profil → „Blockieren“. In den Einstellungen: Konto privat, Kommentare/DMs begrenzen.
- Discord/Gaming (Roblox, Minecraft, PlayStation/Xbox): Nutzer anklicken → „Melden“/„Blockieren“. Server-Moderation um Entfernung bitten.
Merksatz: Beweise sichern → melden → blockieren → mit Erwachsenen lösen.
So begleiten wir emotional
Wir geben Worte, bevor der Kopf sie findet: „Du bist mehr als das, was da steht.“ „Deine Gefühle sind richtig.“ „Hilfe holen ist Stärke.“
- Stärkenliste: 5 Dinge, die dein Kind gut kann (sichtbar aufhängen).
- Helferliste: 3 Menschen, die ansprechbar sind (mit Nummern).
- Orte-Liste: 2 Orte, die sofort beruhigen (Sofa-Ecke, Balkon, Spielplatz).

Codewort fürs Abholen
Grundschutz, der schnell wirkt
- Konto privat, nur echte Kontakte rein.
- Wer dir schreiben darf: „Freunde/Kontakte“.
- Kommentare filtern oder vorübergehend schließen.
- Standort aus (Schnapp-Map, Live-Standort).
- Keine intimen Bilder verschicken. Bei Druck: sofort zu dir kommen.
- Starke Passwörter, 2-Faktor-Anmeldung.
- Keine „Gegenangriffe“. Wir handeln erwachsen.
Vorlagen zum Kopieren
Mail an die Schule
Freitext im Meldeformular einer Plattform
Checkliste (zum Abhaken)
- Kind beruhigt, Nähe gegeben, keine Vorwürfe
- Akute Gefahr geprüft (Schule/112 bei Bedrohung)
- Screenshots/Screen-Recordings/Links gesichert
- Inhalte gemeldet, Absender blockiert, Liste geführt
- Schule informiert, Ansprechperson/Termin gesetzt
- Profile/DMs gesichert, Standort aus
- Schlaf/Bewegung/Rituale geplant
- Nach 48 h: Maßnahmen prüfen, ggf. nachfassen
- Bei Bedarf: Beratung/medizinische Hilfe
Was ich meinem Kind am Abend sage
„Du bist wichtiger als jedes Handy und jeder Kommentar. Ich bin da – heute, morgen, übermorgen. Wir dokumentieren, melden, blockieren, reden mit der Schule und holen Hilfe, bis es besser wird. Und heute suchst du den Film aus. Die Decke liegt bereit.“

