Kapitel 2 - Land in Sicht: Alles für die Freundschaft!
Es war eine jener stillen Abende im Bärental, an denen der Fluss wie eine dunkle Seidenschnur durch das Tal glitt und über dem Berg das alte Schloss Spukstein wachte. Die Dorfbewohner machten früh die Läden zu – man munkelte, im Schloss spuke es. Keiner ging hinauf. Nur der Wind wagte sich durch die leeren Fensterbögen und spielte Orgel auf den Ritzen der alten Mauern.
An diesem Abend jedoch schob sich ein Piratenschiff den Fluss hinauf, knarrend und prustend, bis es am kleinen Steg festmachte. Die Piraten – eher tollpatschige Obst- und Gemüsekäufer als gefürchtete Räuber – hüpften an Land und stritten freundlich, ob der Apfel rot genug oder die Karotte lang genug sei. Ganz oben im Hauptmast aber saß ein kleiner Affe mit dem Namen Anton. Er war auf dem Schiff der Ausguck und musste den ganzen Tag über nach Land ausschau halten. Es traute sich sonst niemand von der Mannschaft so hoch rauf auf den Mast. Sah er Land, rief er: „Land in Sicht!“. Doch nie antwortete ihm jemand: „Gut gemacht, Anton“. Das war es, was ihm fehlte: ein Freund, der seine Stimme hörte.
Ein dünnes, salzverkrustetes Büchlein steckte in seiner Hosentasche. Er las es heimlich, wenn die Wolken sich über dem Wasser stapelten. Es handelte von Freundschaft – von geteilten Geheimnissen, warmen Blicken und der Art von Stille, die zwischen zwei Menschen gemütlich ist, nicht leer. Je öfter Anton las, desto deutlicher merkte er, wie allein er sich fühlte.
Als die Piraten sich im Dorf umsahen und ein Sack Kartoffeln in den Fluss kullerte, nutzte Anton seine Chance. Er rutschte am Tau hinab, setzte einen Fuß auf den Steg, dann den anderen – und lief. Am Ufer entlang, unter Erlenzweigen hindurch, an schnatternden Gänsen vorbei, den schmalen Pfad hinauf in Richtung Berg. Dorthin, wo die Dorfbewohner nie gingen.
Der Weg wurde steil, und aus dem Tal stieg der Geruch nach Äpfeln und feuchtem Holz herauf. Als Anton die letzten Stufen zum Burghof erklomm, stand die große Tür des Schlosses einen Spalt offen. Drinnen war es nicht kalt, sondern warm wie in einer alten Geschichte. Ein Licht huschte über die Wand, dann schwebte jemand um die Ecke – klein, freundlich, ein schimmernder Zipfel Mondschein mit frechem Grinsen.
„Hallo“, sagte der kleine Geist. „Ich bin Banoo. Und du bist … sehr weit gelaufen.“
Anton fuhr zusammen, hielt dann aber stand. „Ich bin Anton“, sagte er leise. „Ich suche …“ Er sah an Banoo vorbei in die hallende Leere und wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte.
„Freunde?“, half Banoo und legte den Kopf schief. „Das ist eine gute Suche. Und eine, in der ich mich auskenne.“
Es war erstaunlich leicht, mit Banoo zu sprechen. Vielleicht, weil er nicht lachte, wenn Anton stockte. Vielleicht, weil er bei jedem Wort ein bisschen heller leuchtete, als würde jedes Stückchen Wahrheit eine kleine Kerze anmachen.
„Die meisten glauben, ich spuke“, erklärte Banoo und deutete auf die hohen Fenster. „Darum nennen sie das Schloss Spukstein und bleiben unten im Bärental. Aber eigentlich passe ich nur auf. Und manchmal wird es still hier oben.“ Er zwinkerte. „Stille ist schön. Aber zu zweit ist sie schöner.“
Banoo führte Anton durch das Schloss. In der alten Küche pendelte am Haken der eiserne Kessel Kalle, der beim leichtesten Windhauch „klonk“ sagte. Im Rittersaal stand eine Rüstung, die bei jedem Schritt freundlich klapperte. „Das ist Rollo“, sagte Banoo. „Er redet nicht viel, aber er kann hervorragend nicken.“ Rollo klapperte zustimmend.
Auf der Wendeltreppe zum Bibliotheksturm trafen sie Isi, die kluge Eule, die mit ernster Stirn über einer Landkarte saß. „Aha“, sagte Isi. „Ein Seefahrerherz. Gut für die Türme, schlecht für die Langeweile.“ Und sie rückte ein wenig zur Seite, damit Anton die Karte sehen konnte. Der Fluss, das Dorf Bärental, und weit draußen ein gezeichneter Anker. „Früher“, brummte Isi, „gründete Kapitän Bärenfalle hier ein Nest. Heute kaufen seine Nachfahren lieber Birnen. Zeiten ändern sich – zum Glück.“
Ganz oben im höchsten Turm blieb Anton stehen. Der Wind fuhr ihm durchs Haar, der Fluss glitzerte fern, und unten im Dorf zankten sich zwei Piraten um eine Zwiebel. „Ich war Ausguck“, sagte Anton. „Den ganzen Tag allein. Ich kann gut sehen, wenn Land da ist. Aber ich wünschte, jemand würde zurückwinken.“
Banoo stellte sich neben ihn. „Dann winken wir jetzt“, sagte er. Sie hoben beide die Arme und winkten dem weiten Abend entgegen. Für einen Moment war die Welt voller Antwort.
„Willst du … bleiben?“, fragte Banoo schließlich, ein bisschen schüchtern. „Im Schloss ist Platz. Ich kann dir das Zimmer im kleinen Ostturm zeigen. Das Fenster schaut zum Fluss. Und wenn du Lust hast, kannst du vom Wehrgang aus nach Sternschnuppen Ausschau halten. Ich kenne alle Stellen, an denen der Wind gute Geschichten erzählt.“
Anton legte die Hand auf sein Büchlein und dachte an die Sätze über Freundschaft. „Hier oben fühlt es sich an“, sagte er langsam, „als könnte Stille wirklich schön sein.“
„Bootastisch!“, rief Banoo so hell, dass Rollo unten im Saal vor Freude einmal mehr klapperte. „Dann bist du ab heute Schlossfreund. Und Schlossfreunde sind Familie.“
Sie stiegen wieder hinab, und Banoo zeigte Anton den Ostturm. Ein schlichtes Bett stand dort, mit einer Decke, die nach getrockneten Kräutern roch. Auf dem Fenstersims lagen zwei glatte Flusssteine. „Zum Beschweren von Notizzetteln“, erklärte Banoo wichtig. „Manchmal hat der Wind zu viele eigene Ideen.“
„Die Piraten …“, begann Anton, ein Rest Sorge in der Stimme.
„Ich kümmere mich“, sagte Banoo. Später, als die Nacht ganz dunkel war, stellte sich der kleine Geist an die Brüstung und schickte mit einer Laterne drei langsame Lichtzeichen zum Fluss: Es geht mir gut. Unten am Steg hielt der dicke Bootsmann inne, stutzte, sah hinauf und kratzte sich im Bart. Dann lächelte er, als hätte er verstanden, und warf eine orangefarbene Frucht in die Luft, die ein Junge am Ufer mit Jubel fing. Manchmal genügt ein Wink.
Am nächsten Morgen war das Schloss nicht mehr leer. Rollo klapperte gemütlich durch den Hof, Isi erklärte, warum die Wolken heute nach Regen rochen, und in der Küche probierte Kessel Kalle ein tiefes „Bumm“, das allen gefiel. Banoo und Anton hängten im Turm eine kleine Glocke auf. „Wenn du sie läutest“, sagte Banoo, „komme ich sofort. Und wenn ich sie läute, kommst du. So weiß jeder, dass der andere da ist.“
In den Tagen danach lernte Anton die Wege des Schlosses wie die Linien seiner Hand. Er las mit Isi in den Karten, übte mit Rollo ernsthaftes Nicken und erfand mit Banoo eine Kunst des höflichen Spukens: Türen nur dann knarren lassen, wenn jemand über Mut spricht; Kerzen nur dann flackern, wenn jemand an Wünsche denkt. Abends saßen sie am Fenster des Ostturms, schauten auf den Fluss und erzählten einander, was sie an diesem Tag gut konnten. „Du kannst hören, wann der Wind eine Geschichte trägt“, sagte Anton. „Und du kannst sehen, wann ein Herz Freunde sucht“, sagte Banoo.
Im Dorf unten wurde gemunkelt, auf Spukstein sei neuerdings etwas anders. Es klang nach Lachen. Ein Mädchen, das Ziegen hütete, meinte, oben habe jemand gewunken. Der Bäcker backte ein Brot in Form eines kleinen Schlosses, und die alte Kräuterfrau sagte, vielleicht sei es an der Zeit, weniger Angst und mehr Neugier zu haben.
Als die Piraten nach einigen Tagen wieder ablegten, stand Anton mit Banoo auf dem Wehrgang und winkte. Keine Sehnsucht brannte mehr. Das Schiff glitt davon, und Anton spürte, wie der Platz in seiner Brust, der so lange leer gewesen war, warm wurde. Nicht, weil die Stille verschwunden war – sondern weil sie jetzt zu zweit war.
Banoo sah ihn an, als hätte er genau dasselbe gedacht. „Weißt du“, sagte er, „Freundschaft ist wie ein Schloss. Am Anfang wirkt es groß und ein bisschen unheimlich. Aber wenn du durch die Räume gehst, findest du überall kleine Dinge, die dich willkommen heißen.“
Anton nickte, und Rollo nickte mit. Isis Federn raschelten zustimmend. Unten im Hof machte Kessel Kalle ein triumphierendes „Bumm“.
„Dann“, sagte Anton, „wohne ich jetzt hier.“
„Dann wohnst du jetzt hier“, wiederholte Banoo. „Und heute Abend zeigen wir dir den Geheimweg zur Sternwarte. Da fallen die Sternschnuppen so nah, dass man fast die Wünsche huschen hört.“
„Bootastisch“, sagte Anton und lachte sein erstes echtes Schlossfreund-Lachen. Und über Spukstein legte sich ein friedlicher Abend, der aussah, als könnte er für immer dauern.
