Land in Sicht: Freundschaft!

Kapitel 6 - Mutig in die Wellen

Oben auf dem Schlossturm liegt die Welt wie ein Bild. Die Dächer von Spukstein glühen im Morgen, und ganz weit unten schimmert der Fluss wie ein ausgerolltes Band aus Licht. „Nichts los“, murrt Ganosch, der Kater, und zeichnet mit der Pfote gelangweilte Kreise in den Staub.

Pfefferkorn, die kleine Maus aus dem Mauseloch, stützt die Pfötchen auf die Zinnen und kneift die Augen zusammen. „Da unten… der Fluss!“ ruft er, und seine Stimme hüpft vor Aufregung. „Warum gehen wir nicht baden? Ein wenig Spaß im Wasser kann doch nicht schaden!“

„Bootastisch!“ jauchzt Banoo, das Schlossgespenst, macht vor Freude einen Purzelbaum in der Luft und wirbelt zwei harmlose Staubgeister auf. Isi, die Eule, nickt bedächtig: „Sonne, Schatten, Wasser – das klingt nach einem Plan.“ Karl, das Krokodil, schlägt mit dem Schwanz ein kleines Trommelsolo: „Oh ja, ich kenn da eine stille Bucht.“

Nur Anton, der kleine Affe, sagt erst mal nichts. Er lächelt, aber sein Lächeln hat Ecken. „Äh, ja… klingt nett“, murmelt er und kratzt sich hinterm Ohr.

„In einer halben Stunde am Schlosstor!“ ruft Isi und klappt ein unsichtbares Notizbuch zu. Alle stieben auseinander. Im Nordflügel klimpern Schubladen. Im Westflügel fliegen Tücher und Kordeln. Pfefferkorn verschwindet in seiner Kammer und kommt mit einer winzigen, selbstgeflochtenen Kordel wieder. „Falls ich surfen will“, erklärt er stolz. Ganosch rollt mit den Augen. „Niemand surft auf meiner Wirbelsäule.“

Eine halbe Stunde später stehen sie am Tor. Pfefferkorn sitzt – wie könnte es anders sein – auf Ganoschs Rücken. „Nur, weil Isi gesagt hat, es sei gut für die Gruppendynamik“, knurrt Ganosch, trägt die Maus aber vorsichtig wie eine Königsfracht. Banoo hält den Schatten kühl, damit keiner schwitzt, und Karl stapft voraus, als könnte ihn nichts aufhalten – außer vielleicht eine besonders interessante Libelle.

banoo.boo Logo Der Weg hinunter nach Bärental ist ein Sommerpfad: es riecht nach Thymian und warmem Stein. Distelflaum segelt wie kleine Fallschirme, Grillen sägen an der Stille, und irgendwo klopft ein Specht seine Geheimschrift in die Rinde. „Links die Weiden, rechts die Brombeerhecke – Finger weg, die pieksen“, deklamiert Isi. „Und dort die alte Mauer von Kapitän Bärenfalle. Der hat hier früher…“ – „…Seile geflochten, keine Fallen gestellt“, ergänzt Pfefferkorn fachkundig. „Der Name ist Marketing.“

Schließlich öffnen sich die Bäume, und der Fluss liegt vor ihnen. Ein breiter, grüner Zug mit silbrigen Schuppen: Lichttupfer tanzen auf den Wellen, Weiden hängen wie Vorhänge ins Wasser. In der Mitte zieht die Strömung ruhig, am Rand kichert das Ufer in kleinen Rinnsalen.

Karl ist als Erster drin – natürlich. Ein Platsch, eine Fontäne, und schon blubbern drei Blasenreihen an die Oberfläche, als hätte der Fluss gelacht. Banoo lässt sich aufs Wasser sinken und schaukelt wie ein Blatt. „Die Temperatur ist bootastisch“, ruft er. Isi prüft mit einer Kralle: „Angenehm gemäßigt.“ Ganosch plätschert elegant, als trüge er unsichtbare Schwimmstulpen. Pfefferkorn springt vom Kater ins seichte Wasser, landet mit einem „Tschp!“ und reckt triumphierend die Pfötchen.

Nur Anton sitzt auf einem sonnenwarmen Stein. Er zupft an einem Halm, wickelt ihn um den Finger, wickelt ihn wieder ab. Banoo gleitet heran, so leise wie Schatten. „Kommst du nicht rein? Es fühlt sich an wie… wie in einer Wolke, die kitzelt.“

Anton presst die Lippen zusammen. „Ich… ich kann nicht schwimmen“, flüstert er, und das Wort fällt ihm schwer wie ein großer Brocken aus Stein. „Und ich habe Angst, dass ihr über mich lacht.“

Alle sind für einen Moment rihig. Dann setzt Isi sich neben Anton, so nah, dass beide sich berühren. „Ein Bekenntnis ist kein Grund zum Lachen, sondern zum Helfen“, sagt sie weich. Karl nickt, ernst wie ein Flussstein: „Ist doch gar nicht schlimm, wenn man mal was nicht kann! Man kann alles lernen, wenn man will. Dann sind wir heute deine Schwimmlehrer.“ Ganosch schmiegt den Schweif an Antons Schulter. „Du schaffst das! Als Kater habe ich auch erst spät schwimmen gelernt. Du weißt schon: Katzen und Wasser, die mögen sich nicht besonders.“. Pfefferkorn salutiert vor Anton und meint: „Und ich bin der Motivations-Maus-trainer!“

„Wir machen das Schritt für Schritt“, sagt Isi. „Erstens: Nähe am Ufer, wo du stehen kannst. Zweitens: Atmen wie ein Wal im Takt – ruhig ein, ruhig aus. Drittens: Schweben lernen. Viertens: Kicks wie ein Frosch, aber höflicher. Fünftens: Kleine Züge, nur so groß wie ein Sonnenstrahl.“

Karl legt sich auf den Rücken vor, streckt Beine und Schwanz. „Schweben ist wie Vertrauen: Du lässt das Wasser tragen, und das Wasser macht das gern.“ Banoo nickt eifrig. „Ich bin der Wind, der nicht drückt, nur stützt. Ein Hauch, versprochen.“ Pfefferkorn saust davon und kommt mit einem geraden Weidenast zurück. „Stabilisator! Patentiert!“

Anton stellt die Zehen ins Wasser. Es ist frisch, aber kein Feind. Noch ein Schritt, die Knöchel, die Schienbeine. Das Ufer murmelt. Banoo gleitet an seine Seite, kaum spürbar wie kühle Luft an einem heißen Tag. „Atmen“, sagt Isi, und zählt: „Eins… zwei… drei…“ Karl zeigt unter Wasser Kicks, die aussehen wie lächelnde Wellen. Pfefferkorn hält den Weidenast so fest, als sei er ein Zepter, das Wunder erlaubt.

„Kick, kick… gut“, murmelt Isi. „Jetzt die Hände wie kleine Löffel. Nur kosten, nicht schöpfen.“ Anton lacht kurz – ein dünnes Lachen, aber echt. Er zieht das Wasser behutsam. Es gibt nach. Es trägt. Er staunt. „Ich… ich schwebe“, haucht er. Der Weidenast wird plötzlich weniger wichtig.

„Wenn du willst, lass ihn für einen Herzschlag los“, sagt Banoo. „Ich bin da.“ Anton nickt. Er löst eine Hand. Der Fluss nickt zurück. Noch eine Hand. Zwei kleine Züge. Seine Füße sprechen mit dem Wasser, und das Wasser antwortet.

Libellen kreuzen wie gläserne Pfeile. Ein Reiher hebt ab und malt ein langes Grau in den Himmel. Ganosch schnurrt tatsächlich im Dreivierteltakt, und das klingt wie ein sehr zufriedenes Lagerfeuer. Karl begleitet, immer eine Armlänge entfernt, groß wie ein Leuchtturm, der lächeln kann. Pfefferkorn trampelt am Ufer und ruft: „Anton! Anton! Anton!“

„Ich schwimme“, sagt Anton, erst leise, dann lauter, bis es das Wasser hört. „Ich schwimme!“ Seine Augen sind groß und rund, und in ihnen spiegelt sich der ganze Nachmittag. Banoo wirbelt eine kleine Glitzerfontäne. „Bootastisch!“ ruft er, und das Echo ruft’s zurück, zweimal, als sei der Fluss selbst beeindruckt.

Der Rest des Tages ist eine Sammlung kleiner Triumphe. Anton lernt die Sternform: Arme und Beine weit, der Bauch dem Himmel zugewandt – und plötzlich trägt das Wasser ihn wie auf Händen. Er lernt, die Strömung zu lesen: die dunkleren Streifen sind die schnellen Wege, die hellem Schaumkanten sind die Kanten der Geschichten. Er lernt, dass Ausruhen kein Aufgeben ist, sondern Teil des Plans.

Sie spielen „Flusspost“: Pfefferkorn setzt ein Blattboot ins Wasser, Anton schwimmt daneben her und schiebt es mit der Nasenspitze. Ganosch, der elegante, gibt den Zielrichter: „Nur keine Rempler, bitte.“ Karl baut mit dem Schwanz eine sanfte Strömungsbrücke, damit das Blatt die Kurve kriegt. Banoo malt mit kühlem Wind Kringel in die Luft, die im Wasser als Wellen landen.

Zwischendurch entdecken sie am Ufer eine Sandbank. Isi legt eine Pause fest. „Trinken, atmen, staunen.“ Banoo legt eine Handvoll runder Kiesel in eine Reihe: groß, klein, groß, klein – wie ein Flussgedicht. Anton sitzt daneben, die Füße im Wasser, und grinst schief. „Ich wusste nicht, dass Mut sich so… glitzerig anfühlt.“

„Mut glänzt selten laut“, sagt Isi. „Er schimmert meistens, wenn man genau hinschaut.“ Karl nickt. „Und er wächst, wenn man ihn teilt.“ Ganosch streckt sich und gähnt so kunstvoll, dass selbst das Ufer applaudiert. Pfefferkorn fischt eine winzige Feder vom Wasser und steckt sie sich wie eine Trophäe hinters Ohr.

Als die Schatten länger werden, treten sie den Rückweg an. Das Wasser flüstert ihnen hinterher, als wolle es sagen: Bis bald, Freunde. Im Abendlicht wirkt Spukstein weich, als hätte das Schloss selbst ein warmes Bad genommen. Auf halber Höhe bleiben sie stehen und schauen zurück. Der Fluss liegt nun ruhig wie ein sorgfältig gefalteter Schal.

Anton räuspert sich. „Danke“, sagt er, erst zum Fluss, dann zu den Freunden. „Danke, dass ihr mich getragen habt, bis das Wasser es konnte.“ Banoo stupst ihn mit der Nasenspitze, so sanft, dass nur die Gänsehaut es merkt. „Freunde sind für Mut da“, sagt er. „Fürs Kichern übrigens auch.“

Oben auf dem Turm verteilt der Himmel schon die ersten Sterne. Pfefferkorn krabbelt von Ganoschs Rücken und flüstert: „Gute Gruppendynamik.“ Ganosch tut so, als hätte er es nicht gehört, doch sein Schwanz malt ein kleines, zufriedenes Fragezeichen in die Luft.

Und Spukstein? Das Schloss atmet, als läge es ebenfalls auf dem Rücken und schaue in die Nacht. Heute war kein Tag für Langeweile. Heute war ein Tag für Freundschaft, Wasser und die Sorte Mut, die in vielen kleinen Wellen kommt – bis plötzlich eine große daraus wird.